Der Tag beginnt langsam. Ich liege in meinem Zelt, umgeben von anderen Campern, Wanderern, Radfahrern, und etwas weiter entfernt auch Wohnwagen und Wohnmobile, und höre zu, wie an diesem Sonntag Morgen das Leben beginnt. Gestern bin ich hier angekommen, als es schon dunkel war. Der erste Eindruck: Menschen! Der zweite Eindruck: Pizza! Und bald danach bin ich dann auch schon eingeschlafen. Den Grand Canyon selbst habe ich gestern nicht mehr gesehen. Dabei ist – nach Karte – von meinem Zelt aus alles ganz nahe: zehn Minuten zu Fuß zum sehr großen, gut bestückten, und gar nicht so teuren Supermarkt in der der einen Richtung – und zehn Minuten zum berühmten South Rim in der anderen Richtung. Ich beschließe, den Tag mit einer Erkundung des South Rims zu beginnen – alleine. Und komme aus dem Staunen nicht mehr heraus. Das Loch im Boden ist derart gigantisch, derart anders als alle anderen Schluchten, die ich bisher gesehen habe – es zieht mich sofort wieder in seinen Bann. Wie vor fast dreißig Jahren, 1996, als ich zum ersten Mal hier war, damals mit dem Auto. Auch wenn das Bild oben etwas später an diesem Tag entstanden ist – es gibt den Eindruck gut wieder.
Was anders ist als vor dreißig Jahren: Damals bin ich Zaungast geblieben, der Blick in die Schlucht wurde ergänzt durch zwei Wanderungen, die ein Stück weit in den Canyon hineingeführt haben, aber danach eben auch wieder auf derselben Seite hinaus. Diesmal ist der Plan, diese unüberwindlich scheinende Kluft zu überwinden. Auch wenn ich weiß, dass es Wege gibt – im Moment erscheint dieses Unterfangen im besten Fall unwirklich.
Also tue ich etwas, das ich kann: Frühstücken. Der Supermarkt hat inzwischen geöffnet, ich besorge mir dort warmes Essen, Kaffee, und ein sonniges Plätzchen, und plane die nächsten Stunden. Auf jeden Fall will ich die fünf Meilen bis Tusayan, die ich gestern mit dem Auto gefahren bin, heute noch laufen. Ich beschließe, dies in umgekehrter Richtung zu tun – von hier nach Tusayan, und dann zurück per Anhalter. Zwischendurch vielleicht Mittagessen in Tusayan. Und vorher werde ich für die nächste Etappe einkaufen. Der Supermarkt hat ein volles Sortiment für Wanderer, ich finde alles, was ich brauche, und es ist sehr unklar, wann und wo es nach dem Grand Canyon noch einmal etwas zu kaufen gibt. Es ist nämlich noch Vorsaison, und während am South Rim der Betrieb in vollem Gange ist, wird am North Rim noch alles geschlossen sein. Und möglicherweise liegt dort auch noch Schnee. Also gilt es, bis Jacob Lake ohne zusätzliche Einkaufsmöglichkeit zu kommen. Der Rucksack wird schwer.
Nach dem Einkaufen kümmere ich mich um mein Permit. Für die Durchquerung des Grand Canyon brauche ich streng genommen keins, aber um eine Nacht im Canyon verbringen zu dürfen und idealerweise eine zweite am North Rim ist ein Permit erforderlich. Ich begebe mich also (mit dem Bus, es ist eine halbe Stunde Fahrt innerhalb des Nationalparks) zum Backcountry Office und stelle mich in die Schlange. Vor 28 Jahren war ich auch schon hier, damals sehr nervös, ob mich die Rangerin hinter dem Schalter in das wilde Gelände jenseits der rollstuhltauglichen Wege vorlassen würde, oder ob ich zu sehr nach Tourist aussehe. Ich lächele ein wenig beim Gedanken an mein Selbst vor 28 Jahren. Nach fast 5000 km Wanderung durch die Wildnis strahle ich inzwischen aus, dass ich vermutlich weiß, was ich tue.
Ich stehe in Gedanken in der Schlange, als sich die Wanderin vor mir herumdreht. „Strider?“ Ich kann es nicht fassen – hat mich etwa ausgerechnet hier jemand erkannt? Ein paar kurze Sätze später ist klar: Vor mir steht eine Frau, die mir von allen Orten auf dieser Welt ausgerechnet auf dem Gipfel des Mount Whitney begegnet ist, vor zwei Jahren, als ich auf dem PCT war. Und als ob das nicht genug wäre, dreht sich eine weitere Frau um und begrüßt mich ebenfalls mit Namen. Wir haben uns auch auf dem PCT getroffen – im Sushi-Restaurant in Tehachapi. Die Welt der Fernwanderer ist klein.
Als ich an der Reihe bin, bespreche ich meine Pläne mit der Rangerin und bekomme ein Permit für eine Übernachtung unten im Canyon, am zweiten Campingplatz unten, dem Cottonwood Campground. Und dann noch für eine zweite Übernachtung auf dem noch geschlossenen Platz am North Rim. Bingo!
Danach ist es Zeit für meine Wanderung nach Tusayan. Nicht das Highlight des Arizona-Trails – fünf Meilen asphaltierter Weg, den sich Radler und Wanderer teilen – aber ein Stück, das mir ansonsten im Sinne von Connecting Footsteps fehlen würde. Essen in Tusayan, Trampen zurück, und schon bin ich „offiziell“ angekommen. Inzwischen ist es mittlerer Nachmittag, meine Besorgungen sind erledigt, morgen früh geht die Wanderung durch den Grand Canyon los. Ich verbringe noch etwas Zeit am Camp, und beschließe dann, zum Sonnenuntergang am South Rim Fotos zu machen. Mary Badass begleitet mich.
Auf dem kurzen Fußweg ist es merklich ruhiger als früher am Tag – die meisten Tagesbesucher sind schon wieder gefahren, nur noch die Übernachtungsgäste der Campingplätze und der Hotels sind hier. Und so kommt es im Wald, noch ein gutes Stück vor dem Canyon, zur ersten Begegnung und zu den ersten Bildern:
Keine zehn Meter vor mir grast dieses schöne Tier, von dem ich inzwischen weiß, dass es sich um einen Wapiti-Hirsch handelt. Und offenbar ist es nicht sein erstes Mahl am Grand Canyon, denn im Gegensatz zu seinen Artgenossen auf dem Colorado-Plateau ist dieser Hirsch überhaupt nicht scheu. Minutenlang lässt er sich fotografieren, bevor er sich ein anderes Plätzchen zum Weiterfressen sucht.
Und dann stehe ich am South Rim – Zeit für ein Selfie im Abendlicht:
Auch hier bin ich nicht alleine. Ganz in der Nähe beobachtet ein Rabe ebenfalls das Geschehen:
Das Panorama ist aber auch umwerfend:
Nachdem ich morgen eine lange Wanderung am Canyon entlang und durch den Canyon hindurch vor mir habe, beschließe ich, für heute an diesem Ort zu bleiben und mir anzusehen, wie es hier langsam dunkel wird. Und da ich hier nicht alleine bin, gibt es auch einmal Fotos von mir:
Dabei entsteht auch das Bild ganz oben. Und diese zwei Bilder, von mir und von Mary Badass:
Und als wir uns dann wieder umdrehen und uns auf den Rückweg machen wollen, sehen wir, dass der Weg versperrt ist. Diesmal sind gleich zwei Wapiti-Hirsche gekommen, die in nächster Nähe die Büsche abweiden:
Wir lassen uns Zeit, beobachten die Tiere, und machen noch ein paar Fotos. Erst im Nachhinein wird mir klar, wie unglaublich nahe uns diese wilden Tiere an sich herangelassen haben. Die vielen Besucher des Grand Canyon haben definitiv ihr Verhalten geprägt:
Dann ist es Zeit für den Rückweg zum Zeltplatz. Und wieder im Wald, trauen wir unseren Augen nicht – dort steht ein hier recht seltenes Bighorn Sheep, ein Dickhornschaf:
Auch dieses Tier lässt sich durch die beiden Zweibeiner in seiner unmittelbaren Nähe nicht aus der Ruhe bringen. Wir beobachten es eine lange Zeit, machen noch etliche Fotos, und begeben uns dann endgültig auf den Rückweg zu unserem Zelt.
Zeit, meiner Lieblingsbeschäftigung (dem Essen) nachzugehen – und dann Zeit fürs Lagerfeuer im Kreis der anderen Wanderer.