AZT Tag 50, 21.3 Meilen bis AZT-Meile 694.6, Grand Canyon Village

Ich wache auf und sehe auf die Karte. Es sind noch 30.6 Meilen bis zum Grand Canyon – zu viel für einen Tag. Das meiste davon geht durch den Wald, entlang des Coconino Rim, und dann über Forststraßen in die kleine Siedlung Tusayan. Danach sind es noch etwa fünf Meilen auf einem asphaltierten Fahrradweg bis zum Grand Canyon Village, der Zentrale des Grand Canyon National Parks. Einziges Highlight auf dem Weg scheint der Grandview Lookout Tower zu sein – und möglicherweise ein paar Ausblicke auf den Coconino Rim, eine Felsverwerfung, die einen Vorgeschmack auf den Grand Canyon geben könnte. Ich mache mich auf den Weg.

Vom Coconino Rim sehe ich wenig – der Weg führt nicht am Rand entlang, der Rim ist nur in der Entfernung zu sehen. Interessant fürs Auge, aber ein gutes Fotomotiv fällt mir nicht auf. Ob das am Motiv oder am Fofografen liegt, kann ich nicht wirklich sagen. Mir reicht es mit den Kiefernwäldern, ich möchte vor allem voran kommen. Und so geht es weiter bis zum Grandview Lookout Tower. Es stellt sich heraus, dass dieser Turm kein Aussichtsturm für Touristen ist, sondern ein Wachturm für die Feuerwehr, und zwar ein ziemlich alter. Die Leitern hinauf sehen zweifelhaft aus, und die Blechhütte an der Spitze ist abgeschlossen. Ich beschließe, erst einmal Pause zu machen und etwas zu essen, und kann mich nicht so recht entscheiden, ob ich hochgehen soll oder nicht. Während ich esse, kommte ein Päärchen mit einem Jeep vorbei und beginnt, die Leitern zu erklettern. Noch nicht einmal auf halber Höhe kehren sie um – zu windig, zu wackelig, zu wenig geschützt für ihren Geschmack. Ich entscheide, dass ich für den Grand Canyon gekommen bin und nicht für einen Aussichtsturm und gehe weiter.

Wenig später wird meine Weg auf ziemlich staubige, aber gut gepflegte Forststraßen geführt. Immer wieder begegnet mir ein Auto, meist ein großer Pick-Up-Truck mit einem riesigen Wohnwagen im Schlepp. Immer wieder gehen von der Forststraße kleine Stichstraßen ab, an denen es Stellplätze für diese Gespanne gibt. Familien kommen, um das Wochenende hier zu verbringen, in einigen der Gespanne sind auch Jäger unterwegs. Während ich hustend durch die von diesen Gespannen aufgewirbelten Staubwolken wandere, staune ich, wie völlig unterschiedlich man diese großartige Landschaft genießen kann. Und mir wird klar, dass ich der Zivilisation und dem organisierten Tourismus am Grand Canyon wieder ein gutes Stück näher kommen werde.

Bei einer weiteren Pause entsteht das Bild oben. Dieses Tattoo, mein bisher einziges, habe ich mir im November 2022 stechen lassen, nachdem ich 2500 km auf dem Pacific Crest Trail gewandert war. So viel hatte sich in mir verändert, dass ich auch eine äußerliche Veränderung wollte – und mich für ein Tattoo entschieden habe. Es sollte irgendwo am Fuß sein, schließlich war ich gewandert, gut verdeckbar für die Anlässe, bei denen Tattoos weniger erwünscht sind, aber auch gut zeigbar, wenn ich das wollte. Und vor allem, beim Wandern mit kurzen Hosen sichtbar. Und es sollte für jemanden, der sich auskennt, sofort „PCT“ sagen, und für alle anderen nicht zu viel preisgeben. Heute schaue ich es mir an, und denke mir, dass die Veränderungen, seit ich vor nunmehr drei Jahren zuletzt in meinem Büro gesessen habe, noch lange nicht abgeschlossen sind. Es ist eine aufregende Reise geworden, mit vielen Überraschungen, fast alle gute. Ist es leicht, sein Leben von Grund auf neu zu gestalten? Nein. Aber ich möchte es um nichts in der Welt wieder rückgängig machen.

Mir fällt auf, wie dreckig ich heute mal wieder bin. Wie lang ist die letzte Dusche her? Wo war das? Richtig, Flagstaff, vor fünf Tagen. Der rotbraune Staub der Straßen klebt an jeder Pore. Vor drei Jahren habe ich jeden Morgen geduscht und hätte niemals so ausgesehen – hier bin ich nicht unbedingt stolz darauf, dreckig zu sein, aber wenn das der Preis dafür ist, zu Fuß in dieser großartigen Wildnis unterwegs sein zu können, dann zahle ich ihn gerne. Und überhaupt, vielleicht bin ich heute Abend in Tusayan und kann mich wieder waschen.

Ein weiterer Blick auf die Karte zeigt, dass der Wanderweg jetzt bald von den Sandpisten im Wald abzweigen und über kleinere Wege führen wird. Blöderweise auf einem mäandernden Pfad, der ein Stück weiter wieder auf die Forststraße zurückführt. Ich rechne nach: Der vorgesehene Wanderweg ist 3.6 Meilen, also fünf Kilometer länger, als der direkte Weg. Und dafür gibt es – Kiefernwald. Nein, das werde ich nicht machen. Ich entscheide mich für den direkten Weg und beschließe, heute bis Tusayan zu kommen. Das sind dann 21.3 Meilen, gut zu schaffen.

Ein paar Stunden später komme ich in Tusayan an. Das ist Amerika, wie man es nicht braucht: Eine riesige, mehrspurige Straße verbindet den Grand Canyon Airport, mit einer Reihe ziemlich überteuerter Hotels und Restaurants, Souvenir-Shops und Touranbieter („Grand Canyon im pinken Jeep“, „Hubschrauberrundflüge plus IMAX 3D“, und viele weitere can’t-miss-it Angebote …). Ich suche den Campingplatz auf, dort gibt es Duschen (gut!) und Zeltplätze für viel Geld (schlecht). Ich suche die Bushaltestelle auf, und lerne, dass der Bus zum Grand Canyon Village erst in einer Woche fährt. Also tue ich das naheliegendst – und kümmere mich um Essen. In einem Sandwichshop setze ich mich auf einen der letzten freien Plätze zu einer Gruppe und komme ins Gespräch. Es sind Kletterer und Trail Runner, und sie sind hoch interessiert an meiner Geschichte. Sie waren heute schon am Grand Canyon und übernachten jetzt in Tusayan. Offenbar haben sie am Mather Campground im Grand Canyon Village andere Langstreckenwanderer getroffen … wir sprechen darüber, ich lasse durchblicken, dass ich wirklich viel lieber dort campen würde als in Tusayan, aber inzwischen wird es dunkel und es sind noch fünf Meilen Weg – das wird heute nichts mehr. Und ehe ich mich versehe, bekomme ich eine Mitfahrgelegenheit angeboten!

Und so komme ich heute noch am Grand Canyon an. Für ein paar Dollar bekomme ich ein Camping Permit und stelle mein Zelt neben anderen Wandererzelten auf. Und dann gibt es ein Wiedersehen: Twix und Foghorn, Chandler (die jetzt Local heißt) und Mary Badass begrüßen mich stürmisch, das Feuer brennt schon, und der Abend klingt an einem steinernen Picknicktisch aus, voller Erwartung, was der Grand Canyon wohl bringen mag.

2 Comments

  1. Martin

    Nun bin ich auf die nächste Etappe gespannt!

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