Der Anfänger fotografiert das Motiv – der Fortgeschrittene das Licht. Ich bin früh wach, und fotografiere dasselbe grandiose East-Rim-Panorama wie gestern Abend – und erhalte ein völlig anderes Bild. Fasziniert mache ich weiter; heraus kommen zwei ziemlich abstrakte Details des Panoramas, die so nur in der Morgensonne an einem Regentag möglich sind:


Ich frühstücke an einem Picknicktisch direkt am Canyonrand, danach ist es Zeit zum Aufbruch. Der Tag gibt für mich fotografisch nicht viel her – ich bleibe an wenig hängen. Das mag auch daran liegen, dass ich nach zwanzig Jahren Kindheit im Münsterland nun wirklich kein Regenfan mehr bin. Und daran, dass mir die Landschaft nur allzu bekannt vorkommt: Sanft welliges Land mit Mischwald. Für einen Wüstenbewohner muss das eine Offenbarung sein – als deutschem Mittelgebirgsbewohner sagt mir meine Mustererkennung, dass ich so etwas schon ziemlich oft gesehen habe:

Entsprechend mache ich wenige Fotos und gehe schnell. Die Gedanken wandern zum Northern Terminus. Als ich vor zwei Jahren auf dem PCT unterwegs war, hatte ich keine Chance, den Weg abzuschließen. Dieses Jahr rückt diese Möglichkeit jetzt in greifbare Nähe! Das beflügelt mich, ich gehe schneller. Das Gelände ist einfach zu begehen, und so wird dies eine meiner längsten Tageswanderungen. Wie als Hinweis darauf, dass es hier nicht immer Regentage hat, komme ich noch einmal durch ein frisches Waldbrandgebiet:

Und dann passiert doch nocht etwas, das auch diesem Tag etwas außergewöhnliches gibt. Ich treffe eine Gruppe von Wanderern, und sie kommt mir entgegen. Das ist ungewöhnlich, weil im Frühjahr fast alle AZT-Wanderer von Süden nach Norden gehen; die umgekehrte Richtung wird vor allem im Herbst begangen. Ich fange ein Gespräch an; die vier sind nicht auf dem Arizona-Trail unterwegs, sondern dabei, den Hayduke-Trail abzuschließen! Hätte ich in Ehrfurcht im Boden versinken können, ich hätte es getan. Der Hayduke-Trail führt durch die grandiosen Wüstenlandschaften Utahs, durch Bryce Canyon und Zion Canyon – und im Unterschied zum Arizona-Trail gibt es dort kaum Möglichkeiten, sich unterwegs zu verpflegen. Selbst die Wasserversorgung ist schwierig; deshalb muss ein Hayduker, bevor er wandert, an strategischen Stellen auf dem Weg Proviant und Trinkwasser vergraben. Und hoffen, dass weder Mensch noch Tier vor ihm diese Vorräte genießt. Die Herausforderung Hayduke hatte ich mir lange angesehen, bevor ich mich für den Arizona-Trail entschied, und hatte beschlossen, dass sie noch eine Nummer zu groß für mich ist. Und hier waren Wanderer, die genau diesen Trail gerade begangen hatten! Im Gespräch erfahre ich, dass zwei von ihnen tatsächlich vorher mit dem Jeep an strategischen Punkten Vorräte vergraben hatten. Die anderen beiden hatten Hilfe – sie sind während ihrer Wanderung von Freunden versorgt worden. Auch eine Möglichkeit!
Inzwischen hat es wieder angefangen zu regnen. Ich gehe weiter, bis dass es dunkel wird, und schlage mein Zelt auf. Dabei erlebe ich eine böse Überraschung: Als ich mein Handy laden will, fehlt die Powerbank. Offenbar habe ich meinen Stromvorrat am East Rim liegen gelassen! Kurz überlege ich, zurückzugehen. Das wären 50 Meilen zusätzlich, mindestens zwei Tage – in Anbetracht der Vorratslage keine Option. Also muss der Rest der Wanderung auch ohne Powerbank gehen. Morgen werde ich nach Jakobs Lake kommen – mein letzter Resupply-Stop.Vielleicht gibt es da auch eine Steckdose.
