Ich wache am Sycamore Creek Campground auf und sehe mich um. Als ich gestern Abend hier ankam, war es dunkel. Heute im Morgenlicht sehe ich erst, wie schön es hier ist – siehe oben! Wie schon auf der ganzen Wanderung, so bin ich auch gestern mit der Höhe beständig zwischen Klimazonen hin- und hergewandert. Heute befinde ich mich im Wald. Die Bäume sind kahl. Das liegt aber nicht daran, dass sie vor wenigen Jahren abgebrannt wären, sondern daran, dass es Laubbäume sind und dass gerade hier gerade jetzt Frühjahr ist. Der Blick zurück auf den Sycamore Creek offenbart dies prächtig im Morgenlicht: Die wenigen Bäume, die bereits Laub tragen, strahlen im frischen Frühlingsgrün. Nun ja, der erste Mai ist nicht mehr weit entfernt, denke ich – und dann geht mir auf, dass dieser Tag nur in meiner gewohnten Klimazone in Deutschland für den Frühlingsanfang steht.
Nach dem Frühstück mache ich mich auf den Weg und lege die kurze Strecke zum Highway 87 auf den Weg. Um diese Tageszeit ist viel Verkehr, nach nur etwa 20 Minuten hält ein Auto und nimmt mich mit nach Payson. Das ist ein weiter Weg – über dreißig Meilen – aber gleichzeitig auch der Weg in den nächsten Ort. Insofern fahren alle dorthin. In Payson frühstücke ich erst ausgiebig, dann nehme ich mir ein Zimmer im Payson Inn, der Pächter hat eine Reputation dafür, Wanderer zu mögen. Prompt bekomme ich einen Rabatt. Nach der Dusche mache ich mich auf den Weg, alles das zu erledigen, was in der Stadt zu erledigen ist: Einkauf, Wäsche waschen, Kontakt mit anderen Wanderern aufnehmen, Internet nutzen, Blog schreiben, essen! Abends treffe ich mich mit vier anderen Wanderern, Hulk, Chaps, Chandler und Allspice, zum Essen. Die Bar heißt Buffalo und ist so nah einem Wildwest-Saloon wie ich es bisher noch nicht erlebt habe. Dort ist nicht nur alles liebevoll so dekoriert, wie es im 19. Jahrhundert vielleicht einmal ausgesehen hat; darüberhinaus ist die Stimmung diese Mischung aus Ausgelassenheit, kaum verhohlener Agressivität und demonstrativ zur Schau getragenem Selbstbewusstsein, wie ich es schon tausendmal in Filmen gesehen habe. Unglaublich, dass es solche Orte wirklich noch gibt! Eine Kostprobe: Hier ist ein Foto vom Schwarzen Brett im Eingangsbereich.
Der weiße Zettel in der Mitte ist mir ins Auge gefallen. Hier soll Geld gesammelt werden für RVN3, eine lokale Organisation, die sich für Bildung durch Sport stark macht, Lauf-Events organisiert, an Schulen geht und so weiter. Dafür wird eine Tombola veranstaltet, bei der es vier Preise zu gewinnen gibt: Allesamt Gewehre, und zumindest eines davon sieht für mich aus wie eine zumindest halbautomatische Waffe! Für zehn Dollar kann man jeweils ein Ticket erwerben, der Barkeeper sammelt das Geld ein und gibt die Lose aus, und am 25. Mai wird dann der glückliche Gewinner gezogen. Meine amerikanischen Mitwanderer verstehen nicht, was ich an diesem Zettel so besonders finde – meinen deutschen Freunden geht das deutlich anders.
Bleibt noch festzuhalten, dass es hier selbstverständlich Burger zu essen gibt – und zwar sehr zu meiner Freude auch in vegetarischer Ausführung mit Beyond-Meet-Pattie. Und dass das IPA vom Fass, das hier serviert wird, Church Music heißt. In Deutschland könnte so ein Name für ein Bier Anlass für lange Grundsatzdiskussionen über Kulturwandel und Werteverfall sein, hier ist er lediglich Anlass zum Schmunzeln und Grund genug für eine Bestellung. Also trinke ich ein Bier, das Church Music heißt, esse einen vegetarischen Burger, beobachte drei andere Gäste beim Kaufen von Tombola-Tickets für ein halbautomatisches Gewehr, lasse mit meinen Mitwanderern die letzten Etappen Revue passieren, und gehe um 22:00 ins Bett – dann schließt die Bar nämlich bereits.