Das Wetter hat sich beruhigt, der Himmel ist zwar noch bewölkt, aber es regnet und stürmt nicht mehr. Ein schöner Sonntag! Ich packe meine Siebensachen und mache mich auf den Weg, erst mal zu Fuß zum Frühstück. Ein letztes Mal in Payson. Danach laufe ich am Highway 87 entlang aus der Stadt hinaus, immer mit ausgestrecktem Daumen, auf der Suche nach einem Auto, das mich mitnimmt. Wie so oft in der Stadt gestaltet sich das schwierig. So laufe ich ziemlich weit aus Payson hinaus, und irgendwann sehe ich das Bild oben: Der schnurgerade Highway, der die Stadt verlässt, und im Hintergrund die Felsstufe des Mogollon Rim, die wie eine Mauer quer am Horizont steht. Das ist mein Ziel heute, dort solles hinaufgehen! Und damit ist dann die geologisch erste Hälfte meiner Wanderung beendet: Ich habe die Sonora-Wüste durchquert, bin durch alle Islands in the Sky gelaufen, habe mich durch die hügelige bis bergige Transition Zone geschlagen, und jetzt trennt mich nur noch diese eine Felsstufe vom Colorado-Plateau. Vom Colorado-Plateau! Immer noch weit entfernt ruft von von dort oben die Verheißung des Grand Canyon. Vor fast dreißig Jahren war ich schon einmal am Grand Canyon – damals mit dem Auto. An die Aussicht vom South Rim glaube ich mich noch gut erinnern zu können. Aber an das Colorado-Plateau habe ich keine Erinnerung; das war damals nur eine weitere Gegend, die es mit dem Auto möglichst schnell zu durchqueren galt, um beim nächsten Highlight anzukommen. Wie das eben so ist, wenn man mit wenig Zeit und hoher Geschwindigkeit versucht, in einem einzigen Urlaub möglichst viel von einem fremden Land aufzusaugen. Diesmal werde ich mehr Zeit mit dem Colorado-Plateau verbringen.
Aber erst einmal muss ich nach Pine kommen. Nachdem ich fast eine Stunde weit aus Payson hinausgelaufen bin, hält ein Wagen neben mir an. Der Fahrer kommt gerade vom Baumarkt Home Depot, er hat ein paar Bauhölzer auf der Ladefläche seines Pick-Ups. Wir kommen ins Gespräch, mein Fahrer ist ein Polizist im Ruhestand. Er befragt mich nach meiner Wanderung und kann nicht glauben, dass ich mich in Arizona ohne Waffe sicher fühle. Ich antworte, dass ich mir vielleicht vorstellen kann, wie jemand mit seiner beruflichen Vergangenheit sich ohne Waffe unsicher fühlt. Ohne direkt zu fragen versuche ich herauszubekommen, ob er auch jetzt bewaffnet ist. Er erzählt, dass er am Morgen in der Kirche war. Und dass es auch in Kirchen in den vergangenen Jahren wiederholt zu versuchten Amok-Läufen gekommen ist – von Wahnsinnigen. Und dass es an Menschen wie ihm liegt, die selbst im Gottesdienst eine Waffe tragen, dass dort nicht mehr passiert. Sowohl wegen der Abschreckungswirkung, die bei möglichen Tätern dadurch entsteht, dass sie damit rechnen müssen, auf andere Bewaffnete zu treffen – als auch, weil Menschen wie er, die bewaffnet im Gottesdienst sitzen und im Zweifel Amok-Läufer schnell erschießen können, verhindern, dass schlimmeres passiert. Der Logik kann ich mich nicht ganz entziehen – und die Frage, ob nicht alle besser dran wären, wenn niemand in der Kirche eine Waffe tragen würde, stelle ich nicht. Das ist für ihn in dieser Gegend kein vorstellbares Szenario, sondern weltfremdes Wunschdenken. Dies ist einer der Momente, in denen ich froh bin, Deutscher zu sein. Ich kann in dieser manchmal so fremden Welt Amerika leben, ohne mich damit identifizieren zu müssen – und deshalb muss ich auch nicht bewerten, was mir begegnet.
Nach einer halben Stunde Fahrt bin ich wieder am Trailhead in Pine, wo ich meine Wanderung vorgestern unterbrochen habe. Von hier aus führt ein ganz frisch renovierter Trail auf den Mogollon Rim, der High Line Trail. Im Unterschied zu anderen Trails war diese Renovierung nicht das Werk engagierter Ehrenamtlicher – hier waren Profis mit schweren Baumaschinen bei der Arbeit. Das war auch nötig, denn vor wenigen Jahren hat es hier gebrannt, und dadurch wurde der alte Trail weitgehend zerstört. Die Wiederherstellungsarbeiten sind an einigen Stellen noch im Gang, ich begegne einmal Bauarbeitern, und bedanke mich für ihre Arbeit. Sie freuen sich ebenso wie die Ehrenamtlichen, die ich vor einigen Tagen getroffen hatte.
Inzwischen habe ich deutlich über die Hälfte des ungefähr 800 Meilen langen Arizona Trails zurückgelegt. Ich bin gespannt, ob die zweite Hälfte ähnlich aussehen wird wie die erste – und wie der Grand Canyon da hinein passen wird. Aber heute geht es erst einmal den Mogollon Rim hinauf. Der Weg steigt kontinuierlich an, manchmal steiler, manchmal flacher. An Stellen mit wenig Bewuchs gibt es schon bald weitschweifende Aussichten:
Nur etwa eine Stunde nach dem Trailhead ist von dem vielbefahrenen Highway nichts mehr zu sehen. Ich versuche, im Tal die Stadt Payson zu finden – vergeblich. Sie muss hinter einem der Hügel liegen, vielleicht auch einfach weiter rechts im Bild. Und links im Bild ist auf der ganzen Länge die Felsstufe zu erkennen, die ich heute ersteige. Nach ein paar Stunden liegt die Abbruchkante unmittelbar vor mir. Und zeigt sich im schönsten Spätnachmittagslicht:
Da bleibt es natürlich nicht bei einem Foto:
Bereits hier sind die unterschiedlichen Ablagerungen zu erkennen, die das Colorado-Plateau bilden, und die am Grand Canyon für das umwerfende Farbpanorama verantwortlich sind. Und die üppige Vegetation: Das Feuer hatte in einem anderen Tal gebrannt. Hier an dieser Aussicht ist ein guter Zeltplatz; ich treffe Chandler wieder, die sich hier schon für die Nacht eingerichtet hat. Und beschließe, noch etwas weiter zu gehen, schließlich ist es noch hell, und durch meine lange Anfahrt heute bin ich noch nicht sehr weit gewandert. Also noch eine Ecke weiter:
Nach etwas mehr als einer weiteren Stunde finde ich zwischen den Bäumen einen weiteren gut geschützten Zeltplatz. Ich bin auch nicht alleine – Sprite und Two Dog (der nur mit einem Hund unterwegs ist) zelten hier bereits. Und inzwischen wird es dunkel. Also schlage auch ich mein Lager auf – den verbleibenden Rest des Anstiegs auf den Mogollon Rim hebe ich mir für morgen auf.