Früh wache ich auf in meinem Zelt am Cottonwood Campground. Nach dem Frühstück sehe ich mich um. Die Sonne ist noch nicht über den Rand des Bright Angel Canyon gekommen, mein Zelt liegt noch im Schatten, es ist noch (vergleichsweise) kühl. Der Bach fließt fast direkt neben meinem Zeltplatz. Ich kraxele vielleicht 30 Meter zum Wasser, das hier ziemlich schnell und laut fließt. Trinkwasser!
Ich habe die Großartigkeit des Grand Canyon für mich allein und denke nach. Gestern hatte ich in fast zwei Monaten die erste nicht ganz freundliche Begegnung mit einem anderen Menschen – unglaublich, gerade in einem Land, das politisch so gespalten ist wie nie zuvor. Zumindest hier draußen tut das dem Miteinander kaum einen Abbruch.
Mein Weg zum North Rim Campground heute ist steil, aber kurz. Es ist Zeit, den Grand Canyon noch ein wenig ausführlicher zu erkunden. Ich beschließe, ein kurzes Stück zurück zu gehen, und dann den Abstecher zu Ribbon Falls zu machen, der gestern Abend der vorgerückten Stunde zum Opfer gefallen ist. Das Zelt ist schnell abgebrochen, und es ist Zeit für das erste Foto in der Morgensonne:

Links im Bild, neben dem Felsen im Vordergrund, ist gut der Wanderweg zu erkennen. Ribbon Falls liegt hingegen rechts, auf der anderen Seite des Canyons, und damit auf der anderen Seite des Flusses. Grundsätzlich gibt es eine Brücke, aber in diesem Jahr fehlt sie. Wer zu den Wasserfällen will, muss sich durch das Tal auf der rechten Seite einen Weg suchen, und dabei irgendwo den Fluss furten. Ich folge dem angelegten Weg bis zu dem Punkt, wo die Brücke sein sollte. Zwei Brückenköpfe sind gut zu erkennen, dazwischen wesentlich tiefer ein ziemlich reißender Bergfluss – keine gute Stelle zum Überqueren. Langsam taste ich mich durchs Dickicht voran, such etwa eine viertel Stunde nach einer besseren Stelle – ohne Glück.
Dann begegnen mir zwei junge Männer, kräftig schimpfend, dass der Fluss sich so sperrig gibt. Sie haben offensichlich die Nase voll vom Suchen und überqueren den Fluss direkt vor mir. Sie schauen flussab, die Strömung drückt ihnen in die Kniekehlen. Das Wasser ist tief, nach zwei Schritten stehen sie bis fast zur Hüfte im kalten Wasser, nehmen ihre Rucksäcke ab und balancieren sie auf ihren Köpfen. Wanderstöcke zum Balancieren oder als „drittes Bein“ verwenden sie nicht. Sie stützen sich auch nicht gegenseitig ab … ich denke mir meinen Teil. Jeder muss hier selbst entscheiden, welche Risiken er eingeht und warum. Aber eine derart unnötig gefährliche Flussquerung – unnötig schwierige Stelle, unnötig riskante Technik, Verzicht auf jedes Hilfsmittel und jede Sicherung – für was!!? Ich sage nichts, folge den beiden aber nicht, sonder suche weiter nach einer besseren Stelle. Fünf Minuten später habe ich sie gefunden. Das Wasser ist gerade knöcheltief, und der Fluss ist hier so breit, dass die Strömung vergleichsweise ruhig ist. Ich packe meine Stöcke aus und gehe mit Bedacht durch den Fluss. Kein Problem.
Ein kurzes Stück Wegs weiter kommt der Wasserfall im ersten Morgenlicht schimmernd in Sicht:

Weil es so schön ist, nehme ich in dem fast minütlich wechselnden Licht noch ein paar weitere Fotos auf. Auch das hier:

In mehreren Stufen fällt das Wasser die steile Canyonwand herunter. Und es ist tatsächlich möglich, hinaufzugehen und hinter das Wasser zu gehen!

Ich bin hier nicht allein, mehrere andere Wanderer kraxeln durch die Felsen, genießen das Wasser, machen Fotos. Einer fotografiert mich:

(Ich schreibe diesen Blogbeitrag etwas über ein Jahr, nachdem dieses Bild entstand. Beim Editieren des Bildes schaue ich ein bisschen wehmütig aus meinem Fenster auf die Hügel der Schwäbischen Alb … )
Es fällt mir schwer zu entscheiden, welches Foto des Wasserfalls im Morgenlicht das schönste ist. Deshalb gibt es hier vielleicht etwas mehr Aufnahmen, als der Blog wirklich braucht:


Dann wird es Zeit, auf den Hauptweg zurückzukehren. Inzwischen ist die Sonne höher gestiegen. Ich kann nicht wiederstehen, und mache auf dem Weg zurück noch ein weiteres Foto:

Nach diesem Abstecher wird es Zeit, das eigentliche Ziel für heute in Angriff zu nehmen: Den Ausstieg aus dem Grand Canyon zum North Rim. Der beginnt zunächst recht gemächlich auf einem sanft ansteigenden Weg durch das Tal des Bright Angel Canyons.

Ich passiere noch einmal Cottonwood Campground, dann geht es weiter den Berg hinauf. Nach etwas mehr als einer Meile erreiche ich die Ranger-Station Manzanita Creek. Hier verlässt der Wanderweg den Fluss und beginnt den steilen Anstieg aus dem Canyon hinaus. Ich schaue mich um. Auf einer Tafel haben sich die Wanderer eingetragen, die hier in den letzten Tagen vorbeigekommen sind. Chandler ist offenbar kurz vor mir; Chaps ist über alle Berge. Eine Bank lädt zur Pause ein. Und dann ist da noch eine Treppe, die in den Fluss führt. An dieser Stelle ist das Wasser tief, und die Strömung zwar stark, aber man kann sich gut an den Felsen rings herum festhalten.
Meine Mutter fällt mir ein: „Kind, mach dich nicht nass, wenn Du draußen spielst. Du erkältest dich noch!“ Ich lächle in mich hinein und denke, dass es wohl Zeit ist, ihr zu sagen, dass dieser Ratschlag sicher gut gemeint war, aber für die Situation hier vielleicht nicht ganz passt. Immerhin ist es inzwischen später Vormittag, und die Temperaturen liegen bei geschätzt mindestens dreißig Grad. Handy, Brille, Geld und Rucksack lege ich ab – und mit allem anderen am Leib tauche ich komplett unter. Herrlich kalt und herrlich nass! Und weil es so schön war, bleibt es nicht bei einem Tauchgang …
Triefnass vom Sonnenhut bis zu den Schuhen setze ich meinen Rucksack wieder auf. Die feuchte Kleidung gibt hoch willkommene Kühlung, in den nächsten zwei Stunden werde ich die Hirtze nicht mehr spüren. Ich fülle meine Wasserflaschen nach, bis zum North Rim wird es kein Wasser mehr geben. Und dann ist es Zeit für den Aufstieg.
Eine weitere Eidechse begegnet mir auf den warmen Felsen:

Ich schaue mich um. Der Bright Angel Creek ist inzwischen recht weit entfernt, ich sehe einen Wasserfall, der ihm weitere Wasser zuführt, an der gegenüberliegenden Canyonwand:

Mein Weg führt jetzt hoch über dem Wasser entlang und windet sich zunächst entlang der linken Felswand.

Allerdings bleibt die Wegführung in diesem Gelände sehr schwierig. Deshalb folgt bald eine Brücke auf die andere Seite:

Über tiefrotes Gestein windet sich der Weg immer weiter nach oben, heute sind es deutlich über 1500 Höhenmeter. Und weil der Weg sich schlängelt, sehe ich immer wieder dieselbe Stelle, in diesem Fall die Brücke, aus immer größerer Höhe. Siehe das folgende Bild, und auch das Bild am Beginn dieses Beitrags ganz oben! Die Brücke befindet sich etwa mittig im Bild, bei ungefähr einem Drittel der Bildhöhe. Schön zu sehen ist hier das enge Seitental, durch das der Weg aus dem Bright Angel Canyon herausführt – der wiederum ein Seitencanyon des Colorado Rivers ist.

Noch etwas höher staune ich darüber, welcher Aufwand für diesen Weg getrieben wurde. Es geht nämlich durch einen Tunnel:

Etwas auf Höhe dieses Tunnels fängt der Wald wieder an. Offenbar ist es hier feuchter! Oberhalb des Tunnels wird die Sicht dann schlechter – es hat Bäume. Es gibt nur noch hin und wieder eine Lichtung, von der aus sich das großartige Panorama erschließt:

Im Bild rechts unten ist der sich schlängelnde Weg gut zu erkennen.
Und dann – bin ich oben. Es gibt wieder ein asphaltierte Straße, eine Bushaltestelle, und natürlich ein Hinweisschild auf die Großartigkeit, die von hier nur ein paar Schritte entfernt liegt:

Sehen kann man den Grand Canyon von hier indes nicht mehr – dazu stehen die Bäume zu dicht.
Es ist menschenleer an diesem Ort, denn es ist der 13. Mai 2024, und alle Einrichtungen am North Rim sind über den Winter bis zum 15. Mai geschlossen. Ein Blick auf meinen weiteren Weg verrät auch sofort, warum: Hier liegt noch Schnee! Zwar sind es nur noch ein paar einzelne Schneefelder, keine geschlossene Decke mehr, aber nach der sommerlichen Wärme im Grand Canyon bin ich jetzt wieder in Winterwetter unterwegs. Die letze Meile zum North Rim Campground ist schnell zurückgelegt, es gibt ein Wiedersehen mit Chandler, die hier schon campt. Und noch einen letzten Blick auf den Grand Canyon in der untergehenden Abendsonne:
