Ich wache früh auf, sehr früh, und denke, heute ist es also so weit: Es geht durch den Grand Canyon, Traumziel für mich seit ich das erste Mal hier gewesen bin, vor fast dreißig Jahren, scheinbar unerreichbar, und doch jetzt, nach 1000 km zu Fuß, einfach nur der nächste Tagesmarsch. Auf der vielbeschworenen Bucket List ist das für mich definitiv ein Big Ticket Item. Und heute ist es so weit!
Aber vorher ist noch etwas ganz anderes dran. Draußen wird in einer halben Stunde die Sonne aufgehen, und dann leuchtet der Grand Canyon im ersten Morgenlicht in Farben, für die Forografen um die ganze Welt reisen, um sie aufzunehmen. Seit ich angefangen habe, an meine Fähigkeiten in Landschaftsfotografie zu arbeiten – mit der Hilfe der hervorragenden Webseite http://www.lichterderwelt.de und den zugehörigen Büchern und ebooks – habe ich solche Gelegenheiten gesucht und schätzen gelernt. Also raus aus dem Schlafsack und zurück an den South Rim, das Frühstück wird heute warten müssen!
Ich werde nicht enttäuscht. Innerhalb weniger Minuten entstehen Bilder, die die ganze Vielschichtigkeit dieser großartigen Landschaft so plastisch abbilden, wie das nur wenig später nicht mehr geht. Siehe ganz oben – und hier, als Bildfolge, wie die Sonne höher steigt und immer mehr Felsen bescheint:
Dies allein wäre schon ein fantastatischer Tag gewesen – und ich bin zwar schone eine Meile gewandert, habe aber noch nicht einmal gefrühstückt. Das hole ich als nächstes nach, ein letztes Mal gibt es einen Breakfast Burrito vom General Store im Grand Canyon Village.
Beim Frühstück denke ich über mein Gespräch mit der Rangerin im Backcountry Office nach. Ich hatte sie nach den Unterschieden zwischen den beiden Trails in den Grand Canyon gefragt – dem Bright Angel Trail oder den South Kaibab Trail. Und gelernt, dass der South Kaibab Trail die weiteren, wilderen und schöneren Ausblicke bietet, dafür aber völlig ohne Schatten in die Tiefe führt. Der Bright Angel Trail führt durch einen engeren Seitencanyon, bietet weniger weitschweifende Blicke, dafür fast kontinuierlich Wasser und immer wieder Schatten. Nachdem es erst Mai ist und damit noch recht kühl, entscheide ich mich für den South Kaibab Trail. Bleibt noch die Frage, wie dort hin kommen. Die Rangerin hatte mir eine Buslinie vorgeschlagen, die zum Einstieg des Trails führt. Beim Frühstück kommt mir das absurd vor: Ich bin nicht 1000 km zu Fuß zum Grand Canyon gegangen, um jetzt Bus zu fahren! Meine Entscheidung steht damit fest: Ich werde den South Kaibab Trail nehmen, und ich werde am South Rim des Canyon entlang zu Fuß dort hin gehen. Das verlängert die Strecke von heute um ungefähr 4.4 Meilen – das sollte machbar sein, zumal diese Zusatzdistanz flacher, asphaltierter, rollstuhltauglicher Touristenweg ist.
Es lohnt sich. Unterwegs komme ich an diesem Aussichtspunkt vorbei:
Unten, in der Bildmitte, kann man hier von ganz oben einen Blick auf den Colorado River erhaschen – das Wasser erscheint als grüner Fleck. Innerhalb des grünen Flecks ist ganz schemenhaft ein grauer Querbalken erkennbar – das ist die Hängebrücke, über die der Trail durch den Grand Canyon führt! Dort sollte ich später an diesem Tag den Colorado-River überqueren.
Der Colorado-River fließt durch dieses Foto von links nach rechts. Etwas links der Bildmitte führt ein Seitencanyon nach Norden, durch den ein Nebenfluss des Colorado fließt – der Bright Angel Creek. Ganz am Südende dieses Seitencanyons befindet sich ein Campingplatz und die Phantom Ranch, das einzige Hotel unten im Grand Canyon. Dort führt mein Weg entlang, und dann den ganzen Bright Angel Creek aufwärts bis auf den North Rim am oberen Ende des Bildes. Und irgendwo in der Mitte des Bright Angel Creek befindet sich ein zweiter Campingplatz, auf dem ich planmäßig heute Nacht schlafen werde.
Als ich mir als dies ansehe und überlege, hält ein Auto neben mir. Zwei Männer steigen aus, Besucher des Nationalparks. Der Kontrast in unserer Erscheinung könnte nicht größer sein – die beiden kommen aus ihrem klimatisierten Auto ohne jede Ausrüstung, ich trage alles bei mir um eine Woche lang unabhängig zu sein, Campingausrüstung, Essen, Wasser, Wanderstöcke. Wir kommen ins Gespräch, ich erzähle ihnen von meinen Plänen für den Rest dieses Tages – und ernte die erhoffte Reaktion. Die beiden kommen aus der Bewunderung und aus dem Staunen nicht mehr heraus. Jetzt muss ich nur noch da unten ankommen!
Aber erst einmal geht es weiter am South Rim entlang. Unterwegs gibt es immer wieder atemberaubende Blicke nach unten:
Auf den ersten Blick sieht man hier die großartige zerklüftete Canyonlandschaft. Auf den zweiten Blick gibt es zwei Details, an denen der Fluss zu erkennen ist. Ich zoome hinein, zuerst im unteren Drittel nahe des linken Randes:
Wieder gibt es an einen kleinen Ausschnitt des Colorado Rivers zu sehen, und dazu das Seitental, durch das der Bright Angel Trail hinunterführt (irritierenderweise führt der Bright Angel Trail nicht am Bright Angel Creek entlang). Ich werde dort nicht wandern, aber es sieht toll aus, insbesondere mit den Schatten der noch recht tief stehenden Vormittagssonne!
Auf dem Übersichtsfoto gibt es ungefähr in der Mitte noch einmal einen Blick auf den südlichen Teil des Bright Angel Creeks, nördlich des Colorado Rivers:
Inzwischen steht die Sonne so hoch, dass neben dem Flusslauf ein paar Gebäude zu erkennen sind, die zur Phantom Ranch gehören. Und die Bäume, die dort unten wachsen, weil sie durch den Fluss Wasser haben! Ich frage mich in diesem Moment nicht, wo das Wasser herkommt in dieser scheinbar so trockenen Gegend.
Noch ein wenig weiter entlang des Weges am South Rim entsteht dieses Bild:
Hier ist jetzt gut das Ende des Bright Angel Creeks zu erkennen, und die verschiedenen Seitentäler im Oberlauf dieses Seitenflusses des Colorado Rivers. Durch eines dieser Seitentäler – das ganz linke – wird mich mein Wanderweg wieder aus dem Grand Canyon hinausführen auf das Kaibab-Plateau am Horizont.
Aber so weit ist es noch nicht, erst einmal muss ich hinunterwandern, und dazu muss ich erst einmal zum Anfang des South Kaibab Trails kommen. Inzwischen ist viel Zeit vergangen, und ich habe mit der eigentlichen Wanderung noch nicht einmal begonnen. Trotzdem nehme ich mir noch die Zeit, ein weiteres südliches Seitental des Colorado Rivers zu fotografieren:
Und dann bin ich am oberen Ende des South Kaibab Trails angekommen.