Am fünften Juli breche ich von Seattle auf. Der Rucksack fühlt sich mit dem Essen für sieben Tage unendlich schwer an. Dazu kommt in einer weiteren Tasche mein sorgfältig getarnter Eispickel. Eine Axt mit zwei scharfen Spitzen in einem öffentlichen Bus offen zu tragen könnte vielleicht unangenehme Fragen provozieren …
Bis zum Startpunkt des PCT sind es von Seattle rund 200 Meilen. Ich lege sie in öffentlichen Bussen zurück, muss viermal umsteigen, wobei der Bus jedes Mal kleiner und die Mitfahrer weniger werden. Unterwegs begegnen mir die ersten zwei Mitwanderer. Sie wollen direkt heute auf den Trail; das habe ich erst morgen vor. Mein Tagesziel heute ist Ravensong’s Roost, ein Ort, von dem ich erst vor ein paar Tagen erfahren habe. Ravensong war 1976 die erste Frau, die einen PCT-Thruhike abgeschlossen hat. Heute ist sie ein Trail Angel -sie unterstützt ehrenamtlich andere PCT- Wanderer. Von dieser Kultur der Trail Angel am PCT hatte ich gelesen, jetzt wollte ich sie kennenlernen. Ich frage per Email an, ob wir uns treffen können, und erhalte postwendend eine Einladung, zu ihrem Haus Ravensong’s Roost in dem kleinen Ort Mazama zu kommen. Mir ist unklar, was mich erwartet, aber auf gut Glück sage ich mein Hotelzimmer ab und mache mich auf den Weg.
Ich finde ein bewaldetes Grundstück vor mit ein paar kleineren Gebäuden, eines davon trägt ein Türschild mit der Aufschrift „Hiker‘ Hut“. Dort hängt ein Whiteboard mit ein paar Hausregeln. Im Garten treffe ich zwei Männer – keine Spur von Ravensong. Die beiden Stellen sich mir als Cuppy und Scavenger the Elder vor. Wie Ravensong auch, sind dies nicht die Namen, die in ihren Pässen stehen. Es sind ihre Trail Names, die ihnen andere Wanderer gegeben haben, wie es in Amerika Tradition ist. Beide sind schon Fernwanderwege gegangen, und wir kommen schnell ins Gespräch. „Auf dem Whiteboard fehlt eine Regel. Sie heißt: Bau dein Zelt irgendwo auf und lass es dir gut gehen.“ Alles klar, das kann ich! „Wo ist Ravensong?“ – „Hütet Rentiere in Norwegen. Soll aber demnächst zurückkommen.“ Wie bitte? Ravensong stellt uns ihr Grundstück zur Verfügung, lässt uns ein Gebäude nutzen, und ist derweilen wochenlang nicht vor Ort? Fast genau so. Es wohnen noch zwei weitere Personen auf dem Anwesen, die während Covid eine Unterkunft gesucht haben und wohl auch ein wenig nach dem Rechten sehen. Ansonsten lerne ich von Cuppy, dass er jetzt bereits das fünfte Jahr in Folge bei Ravensong zu Gast ist, sie selbst aber noch nie getroffen hat.
Deshalb weiss ich mein Glück zu schätzen, als nach Einbruch der Dämmerung ein Auto vorfährt und Ravensong selbst vorbeikommt. Mir begegnet eine Frau, die bereits vor über 40 Jahren Fernwanderwege begangen ist, und die tatsächlich beim Rentierhüten in Norwegen war. Sie erzählt von Wanderungen und Wanderern aus aller Welt, und vor allem davon, wie es gerade jetzt auf dem PCT in Washington aussieht. Wo noch Schnee liegt, welche Brücke in welchem Zustand ist, welche alternativen Wege man im Fall der Fälle gehen kann. Und welche Stellen schön sind und auf keiner Karte stehen! Einen herzlicheren Empfang und einen besseren Warmstart für meine eigene Wanderung hätte ich mir nicht wünschen können.
Wunderbarer Start! Hast Du auch schon einen neuen Namen bekommen gemäß dieser Tradition? 😉
Das habe ich mich auch gerade gefragt – und gerätselt, welcher das wohl sein könnte… 😀
Hey, wenn’s so läuft, läuft’s richtig. Ein Traum.