Maximiliansweg Tag 3: Über den Grünten nach Pfronten

Nach einer Nacht Schlaf geht es mir gut. Das Frühstücksbuffet wird dank Corona zu einer besonderen Erfahrung: Nur verpackte Sachen gibt es am Buffet, alles andere wird an den Tisch gebracht. So kommt eine freundliche Bedienung erst mit dem Brotkorb, dann mit der Käseplatte, dann mit der Wurstplatte. Und mit dem Gemüse. Und mit dem Obst. Und mit dem Kaffee. Wir müssen beide lachen, als sie zum sechsten Mal an meinen Tisch kommt. Das hat schon was, wenn Bedienung tatsächlich mehr bedeutet, als eine Speisekarte zu bringen und abzuholen, und danach das vorkommissionierte Essen abzuladen! Ob dies die Erfahrung beim Essengehen war, bevor die Lean-Manufacturing-Berater den Service in den Frühstücksräumen der Hotels weitgehend wegrationalisiert und überall Selbstbedienungsbuffets eingerichtet haben?

Ich verlasse das Hotel bei strahlendem Sonnenschein und wandere durch die Sonthofener Innenstadt. Auf dem Weg passiere ich die Jägerkaserne. Der Bau wurde 1936 errichtet, und wird nach wie vor von der Bundeswehr genutzt. Kommt es eigentlich nur mir seltsam vor, wenn hier zumindest in der Gebäudenutzung schönste Kontinuität zwischen dem dritten Reich und unserer Gegenwart herrscht? Ein Einzelfall ist es ja nicht – selbst in Sonthofen gibt es mit der Generaloberst-Beck-Kaserne ein weiteres NS-Militärgebäude, das von der Bundeswehr genutzt wird. Und das Verteidigungministerium sitzt heute in denselben Gebäuden, in denen Hitlers Allgemeines Heeresamt untergebracht war. Auf der Internetseite des Verteidigungsministeriums wird hervorgehoben, dass der Widerstandskämpfer Graf von Stauffenberg dort sein Büro hatte, was zweifellos stimmt. Aber das Attentat vom 20. Juli 1944 war sicher nicht die einzige Aktion, die im Bendlerblock geplant wurde.

Wieder denke ich an Christine Thürmer: Eine Wanderung in Deutschland ist eine Wanderung in einer Kulturlandschaft. Und da findet man auch solche Stolpersteine.

Mein Weg führt über die Iller, an einer kleinen Burgruine vorbei, und dann über scheinbar endlose Teerstraßen durch einige Dörfer zum Grünten. Auf dem Gipfel des Grünten war ich vor zwei Jahren, deshalb erwarte ich bekanntes Terrain; das erweist sich aber als falsch. Der Grünten hat mehrere Gipfel. Vor zwei Jahren habe ich Burgberger Hörnle und Übelhorn bestiegen, heute geht es auf das Tiefenbacher Eck und vorbei am Gipfel des Spieser.

Der Weg löst bei mir zwiespältige Gefühle aus. Auf der einen Seite die Allgäuer Idylle, perfekter Sonnenschein, grüne Wiesen, Kühe, kleine Dörfer, Kapellen, wie direkt von der Postkarte geklaut. Das Ganze wird begleitet vom Gebimmel der Kuhglocken, das den wenigen Autoverkehr deutlich übertönt. Auf der anderen Seite wandere ich stundenlang auf Straßen, die auf beiden Seiten von elektrischen Weidezäunen gesäumt sind. Ob diese die Kühe drinnen oder mich draußen halten sollen, ist mir nicht klar. Aber das Gefühl, in der freien Natur zu sein, stellt sich nicht ein. Kulturlandschaft eben.

Ich gelange am Bildstöckle auf 1299 m zu einem ersten Aussichtspunkt. Ich sehe etwas, das es eigentlich gar nicht geben darf: Im Wald steht ein Zelt, in dem ein junges Pärchen übernachtet hat. Wildcampen ist in Bayern wie auch sonst in Deutschland verboten, aber natürlich möglich. Ich habe auch ein Zelt dabei. Ich möchte aber nicht riskieren, in den frühen Morgenstunden mit einem mittelfreundlichen Polizisten diskutieren zu müssen, ob es sich bei meiner Art der Nächtigung um ein unerlaubtes Campieren oder ein erlaubtes Notbiwakieren handelt. Und mit einem der elektroweidezaunaufstellenden Landwirte zu verhandeln, ob ich vielleicht ausnahmsweise auf seinem Hof campieren kann, finde ich auch wenig reizvoll. Deshalb habe ich gestern Nacht im Hotel geschlafen, habe heute eine Ferienwohnung gebucht und plane danach – in Füssen – auf einem Campingplatz zu zelten . In Füssen gibt es nämlich einen Campingplatz, der außer Wohnmobilstellplätzen auch noch eine Zeltwiese hat, und der Mitte Oktober noch geöffnet ist. In Pfronten und Sonthofen hatte ich danach vergeblich gesucht. Eine Wanderung mit Zelt in Bayern ist schwieriger als ich mal dachte.

Weitere Herausforderung: Fast alle Quartiere sind ausgebucht. Man muss tage-, wenn nicht wochen- oder gar monatelang im Voraus planen und buchen. Wegen schlechtem Wetter oder schöner Landschaft irgendwo einen Tag länger zu bleiben ist nicht möglich. Deshalb kann man auch nicht spontan die Tagesdistanz verlängern oder verkürzen, wenn Kondition, Wetter und Planung nicht so zusammenpassen wie am heimischen Schreibtisch gedacht. Man muss auf seiner Mehrtageswanderung alles im Vorhinein auf den Tag genau planen und organisieren, und sich dann an den Plan halten. Sonst ist außer Stornierungsgebühren nicht viel gewesen.

Ich reiße mich vom Anblick des Zeltes im Wald los und gehe weiter Richtung Tiefenbacher Eck, durch den Wald, über trockene Wurzeln, und endlich abseits der Straße. Auf das Tiefenbacher Eck folgt der Boaleskopf bei 1568 m.

Danach ändert sich das Gelände. Ich laufe fortan durch Sumpflandschaft, zum Teil über Bretter, zum Teil durch satt schmatzenden triefnassen Matsch. War der Weg gestern glitschig, weil es über nasse Steine ging, ist er es heute, weil der weiche Waldboden nach ein paar Wochen Regen und Nebel komplett vollgesogen ist. Wo vor mir Kühe langgegangen sind, befindet sich in ihren vielleicht zehn Zentimeter tiefen Hufspuren jeweils ein kleiner Pfuhl. Das Trittesuchen wird zu einer interessanten Übung im Pfützenvermeiden. Allerdings gibt es heute auch ein großes Plus im Vergleich zu gestern: Da ich vergleichsweise tief unterwegs bin, verläuft der Tag unterhalb der Wolkendecke und damit fast frei von Nebel!

Am frühen Nachmittag freue ich mich, an einer etwas größeren Alm einkehren zu können. Es ist nicht viel los, nur ungefähr zehn Gäste sitzen auf den Bierbänken, als ich ankomme. Die Wirtin bietet Essen und Trinken an, und für den Vegetarier finden sich unter anderem Bratkartoffeln mit Kräuterrührei auf der Karte. Lecker und hochwillkommen! Wandern in der Kulturlandschaft hat auch ganz Wesentliches für sich.

Nach dem Essen kommt der schwierige Teil des Tages, der Abstieg über mehrere hundert Höhenmeter über eine Skipiste. Das wäre an sich nicht bemerkenswert, wäre besagter Piste nicht ebenfalls komplett vollgesogen. Bei recht sportlicher Hangneigung ist es so glitschig, dass ein Mitwanderer ohne schweres Gepäck kurzerhand heruntersurft – ohne Surfbrett, einfach auf seinen Schuhen. Dank sehr hochliegendem Schwerpunkt infolge Körpergröße und Rucksack und dank einer Niete bei der Genlotterie für den Gleichgewichtssinn ist das für mich keine Option. So nutze ich meine Wanderstöcke zum Balancieren und Stabilisieren und taste mich Schritt für Schritt hinab. Meist geht das gut; wenn nicht, werden die Füße mal wieder kurz nass und die Hose noch ein bisschen matschiger. Als ich an der Talstation des Skilifts ankomme, mache ich drei Kreuzzeichen und schaue auf die Uhr. Ich habe den Weg ohne Stürze und Verletzungen hinter mich gebracht, aber das Ganze hat natürlich viel länger gedauert als geplant. Den verbleibenden Weg bis zum Quartier in Pfronten werde ich nicht vor Einbruch der Dunkelheit laufen können. Woanders zu übernachten ist wie oben beschrieben auch keine Option. Also rufe ich mir ein Taxi und lasse mich die letzten zehn Kilometer fahren.

Abendessen gibt es in einem gemütlichen Brauereigasthof, übernachtet wird in einem Ein-Zimmer-Apartment bei einem Ferienwohnungsvermieter. Wie Urlaub fühlt sich das ganz bestimmt an. Aber wie eine Fernwanderung? Das Gefühl von Freiheit, das sich in Amerika nach kurzer Zeit eingestellt hatte, lässt bis jetzt auf sich warten. Ob sich das morgen ändern wird?

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