Ich wache in meiner Einzimmer-Ferienwohnung auf und bereite mir mein Frühstück nach bester PCT-Manier zu: Milch aus mit Wasser angerührtem Milchpulver, dazu Müslimischung, das ganze in einem großen Plastikbecher, der sowohl als Vorratsbehälter als auch als Müslischüssel dient. Gewichtsoptimiert, geschmacksreduziert, ohne Kühlung monatelang haltbar. In der nordamerikanischen Wildnis etwas Wunderbares – in der deutschen Zivilisation eher komisch. Immerhin verfügt Pfronten über mehrere Bäckereien. Warum sich dann mit einem Frühstück zufriedengeben, das einem belegten Brötchen geschmacklich, gesundheitlich und in Bezug auf das mitzuschleppende Gewicht deutlich unterlegen ist? Vielleicht, weil es mein Versuch ist, meine Erfahrung aus Amerika in Bayern fortzusetzen, anstatt hier unvoreingenommen Bayern zu erfahren? Ich beschließe, in Deutschland nicht Nordamerika zu suchen. Sondern Deutschland. Und in die Voralpenstädtchen zukünftig nicht schweren Proviant mitzunehmen, sondern etwas Geld.
Nach dem Frühstück breche ich auf, der Weg führt aus Pfronten heraus zunächst durchs Vilstal, bis er kurz vor der österreichischen Grenze in die Berge führt. Bis hierhin hatte ich freie Sicht. Danach stellt sich das Feature vom zweiten Tag wieder ein: Nebel. Bevor ich hoch genug komme, um wieder komplett vom Weiß eingeschlossen zu sein, entsteht dieses Foto vom morgendlichen Vilstal.
Das erste Etappenziel heute ist die Burgruine Falkenstein. Hier wollte Ludwig der Zweite aus einer Ruine aus dem dreizehnten Jahrhundert seine größte neugotische Schloßanlage bauen, getreu dem seinerzeit verbreiteten Motto: Wir verbessern alte Bausubstanz mit der Neuinterpretation alter Ideen und unserer modernen Technik. Allerdings wurde mangels Geldes daraus nichts. An Ludwig den Zweiten erinnert heute Neuschwanstein. Die Pläne und Modelle seiner Ideen für Falkenstein bestaune ich im Museum. Auf dem Berg steht nach wie vor die Ruine aus dem dreizehnten Jahrhundert. Irgendjemand hat nachgemessen, dass es sich um Deutschlands höchstgelegene Burgruine handelt.
Diese Entdeckung war den Tourismusvermarktern ein Luxushotel wert, mit Straßenanschluss, Panoramaterrasse und – sicherlich eine Konzession an die Tageswanderer – einer Pommesbude vor dem Haupteingang. Die Pommesbude hat heute geschlossen, die Tageswanderer verzehren auf den Stühlen daneben mitgebrachten Proviant.
Nachdem ich den Weg am zweiten und dritten Tag fast für mich alleine hatte, ist heute deutlich mehr Betrieb. Beim Aufstieg nach Falkenstein lerne ich eine Familie kennen, die zu einem Tagesausflug aus Berchtesgaden hergefahren ist. Später begegnet mir eine Tübinger Studentengruppe, die die letzten Tage vor Semesterbeginn im Allgäu verbracht hat. So ist es vielleicht kein guter Tag für die Aussicht, aber ein guter Tag, um die typischen Wanderbekanntschaften zu schließen. Menschen, die man wahrscheinlich nie wiedersieht; mit denen man ganz offensichtlich etwas gemeinsam hat; mit denen man viel Zeit im Gespräch verbringen kann, ohne dass man dies groß planen muss; mit denen man ein Stück Wegs teilt; von denen man sich mit der gleichen Selbstverständlichkeit wieder trennen kann, mit der man sich auch mit ihnen verbunden hat. Entsprechend entstehen Gespräche und Beziehungen, die ebenso intensiv wie flüchtig sind. Ich genieße das, und ich habe das sichere Gefühl, dass meine Gesprächspartner es auch tun. Großartig!
Nach der Burg Falkenstein führt der Weg noch etwas höher hinauf zum Zirmgrat, und hier schließt mich der Nebel endgültig ein. Anstelle großartiger Aussicht umgibt mich weiße Stille, immer wieder unterbrochen von plötzlich aus dem Nebel auftauchenden, entgegenkommenden Wanderern. Ich registriere große, rot-weiß gestrichene Steine am Weg mit der Jahreszahl 1844. Hier oben verläuft die Grenze zwischen Deutschland und Österreich. Ich begehe einen Grenzübertritt nach dem anderen und frage mich, was ich dabei wohl jedesmal zu erledigen hätte, um den Anforderungen der jeweiligen Corona-Verordnungen gerecht zu werden. Hier schützt nicht die Unwissenheit vor der Strafe, sondern die Abwesenheit. Die wohl erwogene und begründete Abwesenheit jeglicher staatlicher Selbstbehauptung in Form von Grenzabsperrungen, Zäunen, Kontrollen oder Patrouillen. Die einfach nur friedlich im Wald stehenden Grenzsteine machen mir bewusst, welch ein Geschenk es ist, in einem offenen Europa zu Friedenszeiten zu leben. Hätte niemand die Grenze mit diesen Steinen markiert, ich hätte noch nicht einmal gemerkt, dass ich sie heute mehrfach passiert habe.
Zum etwas verspäteten Mittagessen finde ich mich auf der Salober-Alm ein. Dies ist ein ausgewachsener Berggasthof, der im Sommer die Wanderer und im Winter die Skifahrer versorgt. Selbst jetzt in der Zwischensaison herrscht viel Betrieb. Ich bestelle am Selbstbedienungsfenster ein Käsebrot. Die Rechnung fällt höher aus als erwartet, ich frage nach. Die Bedienung hat mir anstelle eines Käsebrotes eine Käsebrotzeit aufgeschrieben hat. Die stand zwar nicht auf der Karte, ist aber erhältlich, und größer als das Käsebrot. Ob ich die haben wolle? Aber sehr gerne! Etwas stutzig macht mich die Frage, ob ich ein zweites Besteck haben wolle. Ich verneine freundlich und erhalte vierzehn Scheiben Hartkäse – dazu Weichkäse, Pepperoni, Gurken, Tomaten und frisches Brot!
Was soll ich sagen, wandern macht hungrig, zu viel esse ich in Summe nicht, und so findet diese wunderbare Mahlzeit ziemlich zügig ihren Weg an ihren neuen Platz in meinem Magen. Gut gesättigt und sehr zufrieden gehe ich weiter. Die Salober-Alm befindet sich übrigens auf österreichischem Gebiet. Entsprechend steht an der Grundstücksgrenze ein Schild mit der Aufschrift: „Achtung, Staatsgrenze.“ Ich habe ein wenig mit mir gekämpft, aber dann der Versuchung widerstanden, hier ein Selfie zu machen.
Der Weg führt hinunter in Richtung Füssen. Ich passiere mehrere im Wald gelegene Seen, die in der bunten Herbstlandschaft sehr malerisch aussehen. Einige Stunden später sitze ich auf einer Bank am Lech unterhalb der Altstadt von Füssen.
Für die ersten drei Tage hatte ich Übernachtungen im Voraus reserviert. Für die Gewissheit, nachts unterzukommen, habe ich gestern damit bezahlt, dass ich ein ganzes Stück mit dem Taxi fahren musste. Heute probiere ich, ob das auch anders geht. Mein Rother-Führer meint, dass es in Füssen Campingplätze gibt. Ich telefoniere, und ein paar Minuten später habe ich einen Zeltplatz in Brunnen am Forggensee.
Bis nach Brunnen sind es noch anderthalb Stunden zu Fuß. Um halb sieben treffe ich am Campingplatz ein. Fast 300 Wohnmobile stehen dicht an dicht, aber auf der Zeltwiese herrscht gähnende Leere. Außer mir befindet sich nur noch ein weiterer Camper dort, mit Auto und Familienzelt aus dem Kofferraum. Ich bin offenbar der einzige Fernwanderer, und fühle mich unter den Wohnmobilkapitänen ein wenig deplatziert. Aber ich finde einen schönen Zeltplatz mit Schlossblick, stelle mein Zelt auf, und beende den Tag mit ein paar Haferriegeln.