Gestern Abend war ich einer der letzten, die am Dorothy Lake angekommen sind. Heute morgen bin ich einer der letzten, die aufbrechen. Es soll mir recht sein – allein wandern kann ich inzwischen.
Die Passhöhe bereitet keine besonderen Schwierigkeiten, keine komplizierten Aufstiege und keine großen Schneefelder. Am Dorothy Pass verlasse ich den Yosemite National Park. Ich habe die gesamte Backcountry-Strecke durch diesen berühmtesten aller US-Nationalparks erfolgreich beschritten! Was John Muir dazu wohl sagen würde?
Auf der anderen Seite sieht alles zunächst genauso aus wie gehabt. Ich fotografiere die Spiegelungen im Harriet Lake im Morgenlicht:
Kurz danach passiere ich einen weiteren Meilenstein. Seit der mexikanischen Grenze bin ich jetzt eintausend Meilen gelaufen, das sind etwa 1600 Kilometer. Foto siehe oben! Einerseits ist das gigantisch, ich weiß nicht, ob ich in meinem Leben bisher insgesamt so weit gelaufen bin. Andererseits ist es noch nicht einmal die halbe Strecke bis nach Kanada… Die USA sind ein riesengroßes Land. Selbst von der Strecke durch Kalifornien habe ich noch nicht einmal zwei Drittel hinter mir!
Sehr zufrieden mit dem Erreichten, aber auch der noch ausstehenden Strecke sehr bewusst, gehe ich so voran, wie ich das inzwischen gelernt habe: Schritt für Schritt. Und ich nehme die Herausforderungen des Weges, wie sie kommen. Und gleich heute stehen mir noch einige bevor, aber zu diesem Zeitpunkt weiß ich das noch nicht.
Es gibt bunte Steine auf dem Weg. Daraus lässt sich etwas basteln, und ein paar andere Wanderer haben das getan. So grinst mich kurz nach dem 1000-Meilen-Stein ein freundliches Monster an:
Bis Mittag geht es weiter durch den Wald bergab. Der Tag verläuft weitgehend ereignislos und freundlich, an einem Fluss im Tal lege ich meine Pause ein.
Doch dann kommt der Schock: nach dem Mittagessen ist es von einer Minute auf die andere vorbei mit dem Wald. Es gibt keinen Schatten mehr und keinen weichen Waldboden. Stattdessen führt der Weg ab jetzt über pechschwarze Vulkanasche – und durch Schneefelder.
Es geht bergauf in ausgesetzten Steilhangtraversen. Ein falscher Schritt, ein verlorenes Gleichgewicht, führen hier wie überall anders zu einem Sturz, der am nächsten Baum endet. Nur, dass es hier fast keine Bäume gibt:
Dann ist der Weg auch noch in unregelmäßigen Abständen durch Schneefelder verdeckt. Diese sind nicht besonders steil oder besonders lang, was dazu verführt, sie nicht besonders ernst zu nehmen. Für fünfzig Meter durch den Schnee extra Eispickel und Spikes auspacken? Die anderen sind doch auch nur mit Wanderstöcken unterwegs. Wird schon gutgehen.
Ich komme an ein besonders steiles Schneefeld, über das ich mehr oder weniger in Falllinie hinaufklettern muss. Der Wanderer vor mir geht einfach hoch. Ehe ich mich versehe, habe ich es ihm nachgemacht und stehe oben. Der Wanderer nach mir lehnt dankend ab und geht einen längeren Umweg. Das bringt mich endlich zum Nachdenken: was mache ich hier eigentlich? Wieviel unnötiges Risiko gehe ich ein, nur um die paar Minuten für das Anlegen der Sicherheitsausrüstung einzusparen und um ein paar mileidigen Blicken vermeintlich fortgeschrittenerer Wanderer zu entgehen? Ich beschließe, ab sofort wieder sicherheitsbewusster unterwegs zu sein. Ich weiß von mindestens zwei Wanderern, die dieses Jahr auf dem PCT zu Tode gestürzt sind. Ich muss nicht der dritte werden.
Vorsichtiger, langsamer gehe ich weiter. Die sehr abstrakt aussehende Landschaft hat eine atemberaubende Schönheit:
Im Laufe des Nachmittags wird klar, dass ich hier oben übernachten muss. Es ist zu weit, um heute noch über den Berg und bis zum Sonora-Pass herunter zu kommen. Also entscheide ich mich für den letzten Zeltplatz vor der Kammhöhe. Es gibt ein paar niedrige Sträucher, die ein wenig Schutz vor dem Wind bieten. Ich komme relativ früh an, ergatterte einen guten Platz, und treffe Potions und Sitting Rock wieder. Gleichzeitig trübt sich der Himmel ein:
Die Nacht wird kalt, sehr windig und etwas regnerisch. Auf über 3000 Metern Höhe keine wirkliche Überraschung… Bevor ich einschlafe, mache ich noch ein letztes Foto von dem Kamm, an dem ich zuletzt entlang gelaufen bin:
Lieber Gregor,
Herzlichen Glückwunsch zu dieser Meilen- Leistung! Einfach unglaublich- weiterhin gute Wanderung!