Nach dem Gewitter des Vortages beginnt dieser Tag mit ungewöhnlich klarer Luft. Die Maultierohren, so die wörtliche Übersetzung des Namens für die Blumen am Wegesrand, leuchten im Sonnenlicht. Manchmal bewachsen sie ganze Berghänge dicht an dicht – seit der Frühjahrsblüte in der Wüste habe ich so etwas nicht mehr gesehen!
Auf dem Weg zum Carson Pass steige ich langsam auf und erreiche einen Aussichtspunkt oberhalb des Lower Blue Lakes. Die spiegelglatte Oberfläche reflektiert das tiefe Blau des Morgenhimmels:
Vom selben Punkt aus sehe ich eine Bergesspitze, die unverkennbar vulkanischen Ursprungs ist. Auf der Karte sehe ich, dass dieser Gipfel „The Nipple“ heißt. Übersetzung und Interpretation überlasse ich den geschätzten Lesenden dieses Blogs:
Danach geht es weiter bergauf. Zu meiner Überraschung gibt es auf dem Carson Pass noch Schneefelder:
Nach meinen noch frischen Erfahrungen vom Sonora-Pass packe ich meinen Eispickel aus, um mich auf dem weichen Nachmittagsschnee zu sichern. Während die Microspikes hier weitestgehend wirkungslos sind, kann der lange Pickel immer noch helfen, einen festen Halt im Schnee zu bekommen. Ich gehe weiter auf das letzte Schneefeld vor der Passhöhe – und dort passiert es. Ich folge den schon deutlich angeschmolzenen Fußspuren eines anderen Wanderers, als der weiche Schnee unter meinen Füßen nachgibt. Ich falle, komme ins Rutschen und weiß, dass auf den nächsten hundert Höhenmetern kein Baum steht, der meinen Fall bremsen wird.
Genau dafür schleppe ich seit 1000 Meilen einen Eispickel mit mir herum. Es ist Zeit, umzusetzen, was ich bisher nur auf YouTube gesehen habe: Die Spitze in den Schnee rammen. Mit beiden Händen am Pickel festhalten, als ob mein Leben davon abhängt (was es in diesem Moment tut). So viel Druck als möglich ausüben, um die Spitze möglichst tief in den Schnee zu bekommen.
Das alles sind nur Sekundenbruchteile. Dann weiß ich: es funktioniert, ich habe es geschafft. Ich kann meinen Fall bremsen, komme zum Stillstand, hänge mit beiden Händen sicher und fest an meinem Eispickel, der wiederum im Schnee Halt gefunden hat. Self Arrest heißt dieses Notfallmanöver in der Literatur – ich habe es zum ersten Mal durchgeführt, und das erfolgreich. Ich lebe noch, und ich bin unverletzt.
Die nächsten Sekunden verbringe ich mit Atmen. Dann grabe ich mir mit den Füßen einen Halt in den Schnee, löse den Eispickel und schlage ihn ein paar Handbreit weiter wieder ein. Anschließend die Füße ein wenig vorwärts bewegen, einen neuen Halt graben, und dann beginnt das ganze Spiel von vorn. Zentimeterweise bewege ich mich voran, bis dass ich an einer weniger steilen Stelle des Schneefeldes angekommen bin, wo ich aufstehen und ganz normal weitergehen kann.
Nachdem das Schneefeld überwunden ist, schaue ich zurück und fotografiere die Stelle, an der ich abgerutscht bin:
Viel ist nicht zu erkennen. Aber hier habe ich gelernt, wie gefährlich Schnee sein kann – und dass ich in der Lage bin, mit dieser Gefahr umzugehen.
Nach kurzer Zeit komme ich an einen großen Wanderparkplatz. Es gibt hier auch eine Ranger Station, wo das Personal den Langstreckenwanderern Obst und Getränke spendiert. Hier gibt es auch mal wieder ein Straßenschild:
Ich erzähle meine Geschichte, ruhe mich aus, und werde schließlich von einer Rangerin mitgenommen nach South Lake Tahoe. Dort werde ich die nächsten Tage verbringen.