PCT Tag 8, von Bridge Creek Camp nach Stehekin, 5 Meilen

Der Weg nach Stehekin besteht aus zwei Teilen: Fünf Meilen Wanderung, und dann elf Meilen Busfahrt. Und da liegt der Haken: Der Bus fährt um 9:15, und dann erst wieder am Nachmittag. Also entweder ganz früh loslaufen, oder den Tag im wesentlichen mit Warten zubringen. Alle im Camp wollen den 9:15-Bus erreichen. Und so sind die ersten schon aufgebrochen, als ich um 5:00 aufstehe. Als ich gegen 6:30 zusammengepackt habe und losgehe, bin ich der letzte. Umso größer meine Überraschung und die der anderen, als ich um 8:15 als erster an der Bushaltestelle ankomme! Dann bemerke ich, dass ich an einer Stelle falsch abgebogen bin und unfreiwillig eine Abkürzung genommen habe. Dadurch habe ich sehr viel vom wildromantischen Stehekin- Flusstal gesehen, was den anderen entgangen ist.

Umgekehrt haben die anderen auf dem offiziellen PCT-Weg drei sehr fotogene Bären getroffen, die mir entgangen sind. Man kann nicht alles haben.
Der berühmte rote Bus kommt pünktlich und braucht für die elf Meilen recht abenteuerlicher Strecke fast eine Stunde. Das liegt auch an dem zwanzigminütigen Zwischenstopp an der unter PCT-Wanderern legendären Bäckerei von Stehekin, die die absolut größten Zimtschnecken macht, die ich je gesehen habe – geschätzt 25 cm Durchmesser und mindestens 5 cm dick, gefüllt mit großen Mengen sehr süßer Creme. Die anderen Backwaren sind ähnlich üppig. Nach etlichen Tagen in der Wildnis bei recht karger Kost ist dies ein unwiderstehliches Schlaraffenland. Für ein paar Dollar ist alles zu haben.

In Stehekin angekommen, bleibe ich erst einmal staunend stehen und schaue mich um. Das Zentrum des kleinen Ortes ist der Landesteg am Lake Chelan, an dem ein paarmal täglich die Fähre anlegt. Der See selber ist mit 81 km Länge der größte Binnensee im Staat Washington, von der Fläche her etwas mehr als halb so groß wie der Bodensee. Die Berge ringsumher fallen hunderte Meter fast senkrecht ab zum Ufer des Sees, und geben dem Ort eine absolut dramatische Kulisse.

Vieles könnte an die Schweiz erinnern, wären da nicht zwei entscheidende Unterschiede. Zum einen liegt der See auf nur ca. 300 Metern Höhe, und entsprechend herrschen mit ca. 35 Grad höchstsommerliche Temperaturen. Zum anderen ist Stehekin keine Stadt wie Lugano, sondern ein Ort mit weniger als 100 Einwohnern, was auch daran liegt, dass Stehekin keinen Strassenzugang hat. Man kommt entweder wie wir zu Fuß, oder mit der Fähre. Ansonsten ist der kleine Ort komplett isoliert. Die wenigen Fahrzeuge gehören Einheimischen und dem Nationalpark, der von hier aus versorgt wird. Es gibt ein Restaurant, ein kleines Hotel, zwei Campingplätze, eine Postfiliale und ein paar Ferienwohnungen. Weiter oben im Tal noch eine Pferde-Ranch und ein weiteres Hotel. Das war’s. Als PCT-Wanderer kann ich auf einem der Campingplätze kostenlos bleiben, es gibt eine Waschmaschine und eine Dusche – letztere lässt sich aber auch wunderbar ersetzen durch ein kurzes Bad im eiskalten Seewasser. Bei den Temperaturen eine prima Idee. Zum ersten Mal tränke ich an diesem Tag meinen Buff in kaltem Wasser und ziehe ihn mir dann wieder auf – eine der wenigen Möglichkeiten, in der Mittagshitze einen kühlen Kopf zu bewahren.

Ganz wichtig ist auch die Postfiliale. Dorthin habe ich vor zwei Wochen ein Verpflegungspaket geschickt, und das hole ich jetzt ab. Alles hat funktioniert, mein Proviant ist angekommen, und damit bin ich für die nächste Woche bestens versorgt. Das Paket war unbedingt nötig – einzukaufen gibt es in Stehekin nur Souvenirs und Süßigkeiten, das Sortiment für die Tagesgäste von der Fähre. Allerdings weiß ich jetzt, dass ich viel zu viel Proviant für eine Woche habe. Also packe ich die Hälfte kurzerhand wieder ein und schicke sie an die nächste geplante Station.

Der Tag vergeht mit dem Wiedersehen anderer Wanderer, die entweder gerade eingetroffen oder gerade im Aufbruch oder beides sind. Am späten Nachmittag dann die große Überraschung – Joe trifft ein. Ich hatte gedacht, er wäre meilenweit voraus, aber er hatte Knieprobleme bekommen und war nur sehr langsam voran gekommen. Wir freuen uns beide über das Wiedersehen.
Joe und Y beschließen beide, in Stehekin ein paar Ruhetage einzulegen, um sich zu erholen. Y wartet außerdem auf ein paar größerer Schuhe. Der Ort ist so schön, dass ich spontan beschließe, zumindest noch einen weiteren Tag bei ihnen zu bleiben.

Meine Lektion des Tages: wenn es sich richtig anfühlt, nicht weiterzugehen, dann sollte man bleiben. Und nicht nur deshalb weitergehen, weil das Ziel noch weit ist. Wenn der Weg zumindest teilweise auch das Ziel ist, dann wäre es sehr schade, an einer ausserordentlich schönen Stelle des Wegs zu schnell weiterzugehen. Und wenn der Weg nicht das Ziel ist, warum wandere ich dann, anstatt zu fliegen?

Ich stelle mir die Frage, wann ich zuletzt in meinem Leben die Freiheit hatte, spontan irgendwo einen Tag länger zu verweilen, ohne jemanden zu versetzen. Ich kann mich nicht erinnern. Es fühlt sich sehr gut an, das jetzt tun zu können.

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