PCT 2022 Tag 13: 12.2 Meilen bis zum Camp bei Meile 148.9 kurz vor Paradise Valley Cafe

Ein paar Minuten nach dem Aufbruch komme ich an der Thule-Quelle an. Wasser! Ich öffne den gewaltigen Hahn, und es passiert – nichts.

Der Hahn ist mit einem mehr als mannshohen Tank verbunden, und dieser ist leer. Ich klettere einen sehr steilen Weg hinunter zu einem matschigen Rinnsal – das muss es wohl tun. Zum ersten Mal ist das Wasser so dreckig, dass ich vorfiltern muss. Ein Stück Nylonstrumpfhosen leistet hier gute Dienste – bis es vom Matsch verstopft ist und ersetzt werden muss.

Das ganze dauert lange, ich komme später weiter als gedacht, und es geht bergauf. Ich gehe schnell und konzentriere mich auf den Weg, immer auf den nächsten Schritt. Ich schaue nicht weit voraus.

Deshalb sieht sie mich, bevor ich sie sehe. Und klappert. OK, es ist so weit: meine erste Klapperschlange!
Ruckartig bleibe ich stehen. Sie liegt etwas links des Weges, züngelt, klappert nicht mehr. Ich kann ihre Angst spüren – und sie meine wahrscheinlich auch. Vorsichtig gehe ich einen Schritt zurück, schaue, mache ein Foto.

Der Hals hinter dem Kopf ist S-förmig gekrümmt, sie ist vorbereitet, blitzschnell vorzustoßen und zuzubeißen. Aber der Rest des Körpers ist gestreckt, nicht aufgerollt. Sie ist wachsam, aber nicht in Panik.

So geht es mir auch. Ich gehe noch einen Schritt zurück, sehe mir das Gelände an. Ich könnte rechts vom Weg einen Bogen um die Schlange laufen, im Abstand von vielleicht zwei Metern von ihr. Ob das reicht?

Langsam gehe ich den Bogen. Kein erneutes Klappern, aber sie lässt mich auch nicht aus den Augen. Als ich an ihr vorbei bin, mache ich noch ein Foto. Sie schaut gerade in die Kamera …

Ich gehe noch einen Schritt weiter. Sie merkt, dass ich keine Gefahr darstellen. Entspannt sich. Und gleitet zur Seite vom Weg weg.

Ich gehe weiter.

Ein paar Stunden später komme ich bei Meile 145 zu Trail Angel Mary’s Place. Mary ist da, sitzt unter einem Sonnenschutz in einer Art Käfig. Sie hat zwei Hundewelpen in Pflege genommen, damit die beiden nicht weglaufen, hat sie einen tragbaren Käfig mitgebracht. Und weil sie sich um die beiden kümmern möchte, hat sie sich kurzerhand zu ihnen hineingesetzt.

Mary ist Philosophieprofessorin im Ruhestand. Entsprechend gibt es hier nicht nur Wasser, sondern auch geistige Nahrung: ein paar Zitate aus der Naturphilosophie, Thoreau, Muir, und einen offenen Bücherschrank. Ich frage mich, welcher PCT-Wanderer wohl ein Buch mitnimmt – sie sich auch. Wir sind schnell ins Gespräch vertieft, es geht darum, ob Thru-Hiking der Selbstreflexion zuträglich ist, weil man so viel Zeit hat, oder abträglich, weil man jeden Tag eine relativ weite Strecke schaffen muss, um das nächste Wasser zu erreichen. Sie erzählt von einem orthodoxen Juden, der den PCT vor einiger Zeit gegangen und ihr begegnet ist. Nicht nur hat er sich unterwegs koscher ernährt, er hat auch streng den Sabbat gehalten. Auf ihre Frage, ob diese zusätzliche Anforderung, genau jeden siebten Tag zu ruhen, das ganze nicht zusätzlich schwierig mache und von ihm selbst wegführe, sagte er nein. Gerade der Rhythmus und das regelmäßige Unterbrechen würde ihm die Reflexion ermöglichen! Während der Wanderung käme er nicht dazu – am Sabbat hingegen schon.

Das nehme ich mir mit – food for thought, wie es hier so schön heißt.

Mary erzählt, dass sie einen Blog schreibt. Im Gegensatz zu den meisten anderen PCT-Blogs aber nicht über die Erfahrungen eines Wanderers entlang des Trails, sondern über die Erfahrungen vieler Wanderer an einem Punkt des Trails. Wer hereinschauen möchte: pct145trailangelmary.com

Wir sind etwa eine Stunde im Gespräch, als zwei weitere Wanderer dazustoßen, Ian und Hannah aus Toronto, die mir vorher schon begegnet waren. Ian ist Koch, Hannah Sommelier. Das Thema wechselt, wir reden über Hundewelpen, ich bleibe noch ein paar Minuten, fülle dann mein Wasser auf und gehe weiter.

Das Gespräch hat lange gedauert, um heute noch im Paradise Valley Cafe anzukommen und zu essen, ist es zu spät – ich habe von Mary erfahren, dass sie nach Covid knapp an Personal sind und deshalb bereits um 15:00 schließen. Also gehe ich noch ein paar Meilen weiter und schlage dann mein Nachtquartier auf.

1 Comment

  1. Albrecht Ranck

    Simply existing is more than enough. 😉

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