Kalifornien hat seinen großen Bevölkerungszuwachs in der Mitte des 19. Jahrhunderts erfahren. Tausende kamen fast täglich, um beim kalifornischen Goldrausch reich zu werden. Und ein Großteil des Goldes fand sich in der Sierra Nevada, dem Gebirge, durch das ich jetzt seit einigen Wochen wandere. Damals war die Sierra Nevada noch viel unzugänglicher als heute – es gab keine Straße, keine ausgebauten Wanderwege, keine Resupply-Infrastruktur. Aber natürlich dauerte es nicht lange, bis hilfreiche Geister alles dies für die Goldsucher aufbauten, um so ihrerseits mittelbar am Goldrausch zu verdienen.
Zentral dabei war die Fähigkeit, schwere Lasten in unwegsamem Gelände zu bewegen. Und das bedeutete im 19. Jahrhundert nicht den Einsatz von SUVs, sondern von Maultieren. Tausende dieser belastbaren Tiere waren damals überall hier im Einsatz. Und in den Wildnisgebieten, in denen ich unterwegs bin und in denen Der Einsatz motorisierter Fahrzeuge verboten ist, sind sie es bis heute.
Im Gedenken daran (und mit Blick auf die möglichen Besucher aus Los Angeles und ihre Geldbeutel) hat die Stadt Bishop vor über fünfzig Jahren damit begonnen, einmal im Jahr ein Maultierfestival zu veranstalten – die Mule Days. Ausgerechnet an diesen Tagen komme ich in Bishop an.
Ich frage im Hotel, was es mit den Mule Days auf sich hat – Antwort: so eine Art Rodeo, nur mit Maultieren! Das finde ich so schräg, dass ich spontan beschließe, mir das ganze anzusehen.
Wie jeder anständige amerikanische Feiertag, so wird auch dieser mit einer Parade begangen. Morgens um 10:00 geht es los. Die Straße ist von tausenden Besuchern gesäumt, und unter viel Beifall ziehen die Akteure vorbei. Neben den Marching Bands der örtlichen Schulen, der freiwilligen Feuerwehr, den Kandidaten für die nächsten Kommunalwahlen und den aktuellen Stadthonoratioren sind das hier und heute natürlich Maultiere! Und davon hunderte. Wenn nicht noch mehr. Ich habe noch nie so viele Pferde auf einmal gesehen, geschweige denn Maultiere!
Angeführt wird die Parade von einem Zug Maultiere, die mit amerikanischen Flaggen geschmückt sind:
Ich begreife: man kann Maultiere einfach hintereinander binden, dann kann ein Cowboy auf dem vorderen Tier einen ganzen Zug führen und steuern! Das wird auch gleich vorgeführt. Nachdem der Zug eine Weile lang geradeaus gezogen ist, vollzieht er auf der Straße ein Kreismanöver.
Die Maultiere haben im 19. Jahrhundert nur in Ausnahmefällen amerikanische Flaggen durch die Gegend getragen. Meist waren sie beladen mit allem möglichen, was in den Bergen gebraucht wurde. Das sieht dann so aus:
Soweit Straßen vorhanden waren, konnten die Tiere natürlich auch Wagen und Kutschen ziehen. Es gibt viele Vereine, die diese alten Fahrzeuge liebevoll restaurieren und dann auf den Mule Days zeigen. Ein Beispiel ist ganz oben zu sehen, ein weiteres hier:
Hier sieht man auch, dass Maultieren hervorragend in größeren Gespannen eingesetzt werden können. Wirklich beeindruckt hat mich dann dieser Erztransportwagen, der von sage und schreibe 20 Maultieren im Gespann gezogen wird:
Was zu guter Letzt auch nicht fehlen durfte war dann der Leichenwagen:
Und so ging es weiter. Die Parade dauerte fast zwei Stunden, ich war sehr beeindruckt. Und beschloss, mir den Rest der Mule Days auch noch anzusehen.
Da war zunächst die unvermeidliche Country Fair mit ihrer Mischung aus Essensangebot, Kinderbelustigung, Cowboyhüten und vielem, was ihre Hersteller für Kunst halten. Dann gab es einen groß angelegten Tiermarkt für Maultieren, allerlei Maultierzubehör, Prämierungen für die schönsten Tiere und vielerlei Kurse für Maultierbesitzer.
Und dann die Wettbewerbe mit dem jeweiligen Finale im Abendprogramm! Ich besorge mir eine Karte für den Samstagabend. Die Arena ist fast ausverkauft.
Die Moderation ist für deutsche Ohren sehr gewöhnungsbedürftig. Zuerst stehen wir gemeinsam auf und singen die Nationalhymne. Dann macht der Moderator den Präsidenten für die hohen Benzinpreise verantwortlich und fordert das Publikum auf, bei den Midterm-Wahlen im November für die Republikaner zu stimmen. Und schließlich weist er noch alle darauf hin, dass sie die Möglichkeit haben, sich hier und jetzt zu Jesus Christus als ihrem Herrn und Erlöser zu bekennen! Ich stelle mir vor, was in Deutschland durch die Presse gegangen wäre, wenn Thomas Gottschalk dies am Beginn einer Folge von Wetten Dass gesagt hätte. Hier scheinen alle außer mir diese Eröffnung völlig normal zu finden.
Danach kommen die Wettbewerbe. Es beginnt mit einer Prämierung der am schönsten restaurierten Kutschen.
Dann folgt das Finale der Packing Competition. Es geht darum, einen standardisierten Satz Kisten einem Maultier möglichst schnell umzuschnallen, und dann eine Stadionlänge weit zu transportieren, ohne dass die Kisten herunterfallen. Über den Tag hinweg waren hier die Vorausscheidungen, im Finale sind immerhin noch 12 Teams vertreten! Ich hatte keine Vorstellung, wieviele Menschen sich für die etwas begeistern können. Die schnellsten Teams beladen ihre Tiere in weniger als einer Minute!
Weiter geht es mit einem Wettbewerb, bei dem ein entlaufenes Kalb mit dem Lasso einzufangen und mit einem zweiten Lasso bewegungsunfähig zu machen ist. Dazu verfolgen jeweils zwei Maultieren mit Reitern das Kalb, und jeder Cowboy hat ein Lasso. Die Aufgabe scheint schwierig zu sein, kein Team löst sie vollständig, aber es scheint Punkte für Teilerfolge zu geben.
Und so geht es weiter. Nach etwa zwei Stunden ist das Programm zu Ende, es ist kalt geworden, ich gehe in mein Hotel zurück. Ich habe Einblick in eine Welt und ein Amerika bekommen, von dem ich auf meinen vielen Geschäftsreisen in dieses Land nie auch nur eine Ahnung erhalten hatte.